Almgras – Ein Postalmkrimi (Teil 3) Kapitel 1

Kapitel 1

Freitag, der 18. September 2015

Der Besucher, der das Hauptgebäude des LKA Salzburg betrat, strahlte Souveränität aus. Das Umfeld kontrollierend, das Äußere zum Blenden herausgeputzt.
Der Maßanzug aus Super-200-Merinowolle schimmerte im Grafitgrau seiner Augen. Ein weißes Hemd, eine leuchtend rote Seidenkrawatte und hellbraune Wholecut-Schuhe komplettierten die Erscheinung des erfolgreichen Geschäftsmannes Anfang 50. Sein grau meliertes kurzes Haar ließ ihn erfahren wirken. Durchtrainiert, kein Gramm zu viel, umgab ihn ein Duft von exklusivem Parfüm.
Er schritt auf direktem Weg zur Rezeption. Vor dem Glas mit dem ovalen Loch blieb er stehen, begrüßte die Dame mit einem: »Guten Morgen«. Charmant lächelnd fügte er hinzu: »Ich möchte gern mit Leutnant Willi Linz sprechen. Würden Sie mich bitte anmelden?«
Die rundliche Rezeptionistin sah von ihrem Computer auf. Fasziniert starrte sie den Mann an, bekam kein Wort heraus. Ohne den Blick abwenden zu können, wählte sie blind die Nummer eines internen Anschlusses. Der Anruf wurde umgeleitet, Annas Handy vibrierte. Sie gab ihrem Chef ein Zeichen, verließ den Besprechungsraum.
»Guten Morgen, Frau Tanzberger, Maria Bauer von der Rezeption. Hier ist ein Herr für Ihren Kollegen. Er müsste abgeholt werden, steht bei mir in der Lobby.«
»Guten Morgen, Frau Bauer. Danke, ich sag’s ihm, kann aber dauern, wir sitzen in einem Meeting. Wie heißt er?«
»Habe ich nicht verstanden. Oder vergessen, zu fragen.« Flüsternd setzte sie hinzu: »Er sieht sooo gut aus.«
»Verstehe. Fragen Sie ihn bitte trotzdem nach seinem Namen.«
»Kein Problem, ich werde das schon in Erfahrung bringen.«
Ein Lächeln huschte über Annas Gesicht.
»Frau Tanzberger?«, meldete sich Maria Bauer zurück, »er sagt, er heißt Sebastian Wolf. Soll ich fragen, ob es dringend ist?«
»Nein!«, bestimmte Anna schroff. »Linz ist schon auf dem Weg. Lassen Sie Herrn Wolf nicht aus den Augen!«
»Keine Sorge.« Die Rezeptionistin legte lächelnd auf.
Bis zum Eintreffen des Ermittlers büßte der Ankömmling stetig an Selbstsicherheit ein. Er nahm auf der lederbezogenen Besucherbank Platz. Kurz darauf erhob er sich, lief ruhelos auf und ab, konnte dem Zwang, andauernd auf die Uhr zu sehen, nicht widerstehen.
Endlich erschien ein schlanker Mann Ende zwanzig in der Empfangshalle. Er war circa eins achtzig groß, elegant gekleidet und sehr gepflegt, trug das schwarze Haar modisch geschnitten. Er musterte den Wartenden mit durchdringenden grünen Augen.
»Guten Morgen, Herr Wolf. Ich bin Leutnant Willi Linz. Sie möchten mich sprechen?«
Mit einem Mal wich die Spannung aus dem Oberkörper seines Gegenübers. Ein tiefer Schmerz trübte das ebenmäßige, sonnengebräunte Gesicht. »Ja, ich muss mit Ihnen reden. Ich habe meinen Sohn umgebracht.«
Linz blieb gelassen, unterdrückte die aufwallende Unruhe.
»Einen Moment bitte«, bat er Wolf, ging zur Rezeption hinüber. Er beauftragte Frau Bauer, einen Beamten für die Befragung abstellen zu lassen. »Kommen Sie bitte«, forderte er den Besucher auf, geleitete ihn zu einem der Vernehmungsräume. Der Uniformierte bezog Posten vor der Tür.

»Setzen Sie sich bitte, Herr Wolf. Zu Ihrer Information, ein Aufnahmegerät wurde eingeschaltet. Für das Protokoll: Leutnant Willi Linz, LKA Salzburg. Es ist Freitag, der 18. September 2015, 8:21 Uhr. Nennen Sie bitte deutlich Ihren Namen und Ihre Adresse. Möchten Sie Kaffee, Tee oder Wasser?«
»Nein danke, ich brauche nichts.« Er schluckte mehrmals.
Linz dachte: Es ist eine Frage der Zeit, bis ihm die Dürre im Hals Probleme beim Sprechen bereiten wird. Er stand auf, bat den Kollegen vor der Tür vorsorglich um zwei kleine Flaschen Mineralwasser.
»Ich heiße Sebastian Wolf, geboren am 23. Februar 1965 in Hallein. Ich wohne Steuer 411b in Annaberg, bin noch verheiratet, habe«, er stockte kurz, »habe eine Tochter.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Wolf, wollen Sie einen Mord gestehen. Sie sagten, Sie haben Ihren Sohn ums Leben gebracht?«
Minutenlang blieb der Mann unbeweglich auf dem Aluminiumstuhl sitzen. Er blickte in den ihm gegenüberliegenden Spiegel, als würde er versuchen, die Wahrheit in seinen eigenen Augen zu lesen.
Linz tippte eine SMS an seine Kollegin Anna Tanzberger: ›Komm sofort in Raum 4. Er ist es wirklich. Sag Hämmerle Bescheid.‹
Prompt erhielt er die Antwort: ›Alles klar‹. Kurz darauf betrat sie das knapp vier Quadratmeter große Zimmer auf der anderen Seite des Beobachtungsspiegels, schaltete den Lautsprecher ein.
»Bevor wir beginnen, Herr Wolf, möchte ich Sie belehren, dass es Ihnen freisteht, sich entweder zur Sache zu äußern oder aber zu schweigen. Überdies steht Ihnen ein von Ihnen zu wählender Verteidiger zu.« Mit einer Spur Dringlichkeit fuhr er fort: »Ich kann verstehen, dass Sie zögern. Falls Sie jedoch dabei bleiben, aussagen zu wollen, würde ich Sie jetzt bitten, konkreter zu werden.«
Warten war nicht Willis Stärke. In den vergangenen 16 Stunden hatten er und seine Kollegen versucht, einen bestialischen Mord aufzuklären. Und mit ihm den Fall, der sie seit Tagen beschäftigte, immer größere Kreise zog. Nun saß ihm der Täter gegenüber, das letzte fehlende Puzzleteil. Er schob Wolf eine der beiden Flaschen zu.
Wenn er trinkt, entspannt er sich, dachte Linz. Und genau das tat er.
Nachdem er abgesetzt hatte, sagte Wolf leise: »Danke.« Er schaute auf, nahm einen weiteren Schluck, drehte die Verschlusskappe zu und stellte das Wasser exakt an die Stelle, an der es zuvor gestanden hatte.
»Gern«, erwiderte Willi. »Es wäre hilfreich, wenn Sie den Grund für Ihr Erscheinen wiederholen würden. Sie glauben also, Ihren Sohn getötet zu haben?«
»Das glaube ich nicht, ich habe es getan. Warum ich ausgerechnet zu Ihnen komme? Ich habe Ihre Visitenkarte bei Rafael, meinem Sohn, gefunden. Sie lag auf dem Tisch in seinem Zimmer. Und ich weiß, dass Sie den Mord an seinem Freund untersuchen. Rafael ist durch meine Hände gestorben.« Er hob sie vors Gesicht, betrachtete sie voller Abscheu. »Ich bin derjenige, der in einer Schneise auf der Postalm den Draht gespannt hat, der meinem Sohn das Leben gekostet hat.«
Mit offenem Mund stand Anna Tanzberger mit ihrem Chef, Oberst Bernd Hämmerle, im Beobachtungsraum. Der Mord, den der Geständige beschrieb, war der grausamste, den sie bisher gesehen hatte. Sie hatte die Bilder vom Fundort klar und deutlich vor sich.
»Ja, ich kenne den Fall, Herr Wolf. Meine Kollegin und ich sind mit der Klärung beauftragt. Sie sollten jedoch am Anfang beginnen. Um Ihre Motivation verstehen zu können, sollten Sie so weit wie nötig ausholen. Reden Sie frei, das Aufnahmegerät wird unser Gespräch aufzeichnen.«
»Also gut, für mich gibt es keinen Weg zurück. Bevor hier ein Anwalt auftaucht, den ich nicht haben will, sollte ich Sie umfassend informieren. Ich bin eh so gut wie tot.«
»So schnell geht das nicht, Herr Wolf. Wenn Ihr Leben in Gefahr ist, können wir Sie beschützen.« Willis Worte waren eine Plattitüde. Das wusste er ebenso wie sein Gegenüber.
»Nein, Herr Linz, niemand kann das. Es ist auch nicht mehr wichtig. Alles, wirklich alles, was mein Dasein lebenswert gemacht hat, wurde mir genommen. Dass ich selbst Hand angelegt habe, war bloß die letzte Konsequenz. Am besten fange ich von vorn an.« Er räusperte sich, trank nochmals.
»Im August 95 sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Mein Vater war Zimmermann, einer von denen, die ihr Handwerk wirklich verstanden. Er hat mir alles, was man über Holz und dessen Verarbeitung wissen kann, beigebracht. Dennoch war ich nicht so weit, als ich seinen kleinen Betrieb übernehmen musste. Wie auch? Ein Grünschnabel, der den Altgesellen die Arbeit erklären sollte. Das konnte nicht gut gehen. Ein halbes Jahr später hatten alle gekündigt, ich saß allein in der Werkstatt auf der Abrichte. So war die Firma chancenlos. Aber ich hatte ja inzwischen mein eigenes Ding.
Zwei Jahre zuvor, im Frühjahr 1993, ich hatte gerade die Gesellenprüfung bestanden, bin ich nach Mittelamerika gereist. Dort habe ich zum ersten Mal exotische Hölzer in natura gesehen. Echtes Mahagoni, Hura Wood, Patagonische Zypresse. Ein Traum für jeden, der es extravagant mag. Das war es, was ich machen wollte, außergewöhnliche Möbel aus wertvollen Hölzern.
Ich schloss mit dem väterlichen Betrieb ab und ging meinen eigenen Weg. Zuerst flog ich nach Panama, schaute mich im Regenwald nach Material um, das sich verkaufen ließe. Ich brachte drei Wochen in Colón zu, unterschrieb schließlich einen Vertrag über eine jährliche Liefermenge von 5.000 Festmetern. Den größten Teil wollte ich weiterverkaufen, einen kleinen selbst verarbeiten. Mir wurde versichert, dass ich eine Art Exklusivrecht in Europa hätte. Stellen Sie sich das vor! Ein Stamm mit 10 Metern Länge und einem Durchmesser von 1,5 Metern vom besten Mahagoni. Fast 18 Festmeter an einem Stück! Der Preis inklusive Transport und Einfuhrzöllen lag 50 % unter dem aller anderen Anbieter. Ich hatte keine Ahnung, warum, aber anscheinend das große Los gezogen.«
Wolf war in seinem Metier, das Erzählen tat ihm gut. Er saß aufrecht, die Schultern zurückgezogen, den Kopf erhoben. Er nippte an der Wasserflasche, legte die Hände flach auf den Tisch. Nach einem Blick in den Spiegel sah er Linz fest in die Augen.
»Ich habe mein Sparbuch geplündert, mir einen Teil meines zukünftigen Erbes auszahlen lassen. Damals kostete der Festmeter normalerweise 35.000 Schilling. Das entspricht rund 2.500 €. Mir hatte man einen Preis von 1.300 € angeboten. Ein todsicheres Geschäft – glaubte ich. Wie vereinbart zahlte ich 80.000 € an. Der Rest war 30 Tage nach Lieferung fällig.
Drei Monate später erhielt ich die Nachricht, dass die Fracht aus Panama im Hafen von Rotterdam lag. Ich setzte mich sofort ins Auto. Dort angekommen, stand ich vor einem verrosteten Kahn unter panamaischer Flagge. Der Kapitän betrunken, weit und breit kein Personal. Erst glaubte ich, mich geirrt zu haben, so müde, wie ich durch die 10-stündige Fahrt war. Doch leider stimmten die Daten auf den Frachtpapieren. Also warf ich einen Blick in den nach Altöl stinkenden Laderaum. Ich war geschockt, der Traum vom erfolgreichen Holzhändler geplatzt. Alles nur Jungholz, kein Stamm dicker als 30 cm, von der Länge ganz zu schweigen.
Sofort rief ich meinen Geschäftspartner an. Vergeblich, die Nummer gab es nicht mehr. Das zumindest hatte ich verstanden, mit meinem damals rudimentären Spanisch. Ich weigerte mich, die Ware anzunehmen, sagte ›¡Basta!‹ und verließ das Schiff.«
»Sie haben telefoniert? Vom Schiff aus?«, unterbrach ihn Linz ungläubig.
»Ja, ich hatte ein D-Netz Telefon. Groß wie ein Aktenkoffer, zwei Kilo schwer und Akku-Leistung für drei Stunden. Aber egal, als Mann von Welt brauchte man das. Kaum saß ich im Auto, tauchte vor und hinter mir der holländische Zoll auf. Der Kapitän hatte um Hilfe gebeten.
Lange Rede, kurzer Sinn. Ich musste die Ware annehmen, für das Entladen bezahlen, die Lagerung, den Einfuhrzoll. Es half nicht, dass ich laut Vertrag keine zusätzlichen Kosten haben sollte. Eigentlich hätte das panamaische Handelsministerium die Formalitäten regeln sollen.
Am Ende musste mein Vater wieder aushelfen. Das hat unsere Beziehung endgültig zerbrochen. Ich wollte einer der Großen werden. Ohne einen in Spanisch verfassten Vertrag lesen zu können. Und dann auch noch so blöd zu sein, ihn zu unterschreiben.«
Willi verlor die Geduld. »Es tut mir leid, wenn ich Sie hier unterbreche, Herr Wolf. Ist das alles nötig, um zu erklären, wann, wie, und warum Sie Ihren Sohn getötet haben wollen?«
»Ja, Herr Linz. Es ist sogar sehr wichtig.« Wolf meinte es ernst.
Der Ermittler zweifelte. Geschichten aus einer Zeit, in der der Sohn, um den es geht, nicht einmal geboren war, können wohl kaum zur Aufklärung beitragen. Mit diesen Gedanken drehte er sich um, sah in den Spiegel. Im letzten Fall hatte ihm Anna vorgeworfen, Wichtiges verpasst zu haben, weil ihm die Ausdauer zum Zuhören fehlte. Das wollte er ändern.
Er wandte sich Wolf zu: »Hätten Sie etwas dagegen, eine fünfminütige Pause einzulegen? Ich würde gern meine Kollegin dazu holen.«
»Nein, kein Problem. Könnte ich bitte noch ein Wasser bekommen?«
»Selbstverständlich, Herr Wolf.«
Anna und Willi traten gleichzeitig auf den Flur.
»Was macht der Chef?«, fragte er.
»Hämmerle telefoniert.«
»Ich brauche einen Kaffee!«, stöhnte Willi. »Kommst du mit?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, marschierte er zum Getränkeautomaten.
»Was hältst du von ihm?«, wollte sie wissen, als sie ihn eingeholt hatte. »Wenn er wirklich derjenige ist, der seinen Sohn auf der Postalm umgebracht hat, hätten wir zumindest den letzten Mord in unter 20 Stunden aufgeklärt.«
»Wäre schön. Der Chef würde sich freuen. Es würde wieder Ruhe einkehren auf der Postalm. Und der Hofrat hätte keine Ausrede mehr, warum er die Gams verfehlt hat.« Sein doppelter Espresso war fertig. Er entnahm den Becher, warf Geld nach, drückte den Knopf mit der Aufschrift ›Tee‹ für seine Kollegin. »Das bringt nichts, Anna. Lass uns lieber die Wahrheit herausfinden. Einen derart gesprächigen Täter bekommt man nicht alle Tage vorgesetzt.«
»Weshalb willst du mich eigentlich dabeihaben? Hast du eine bestimmte Vorgehensweise im Kopf?« Sie steckte ein paar Münzen für Hämmerles Kaffee in den Automaten.
»Weiß noch nicht, irgendwie glaube ich, du würdest ihm guttun.«