Almnacht – Weinachts-Special Ein Postalmkrimi (Teil 4)

Kapitel 1, 22. Dezember 2015

   

   »Und? Traust du dich?«, fragte Tommy seine kleinere Schwester herablassend. »Das ist ganz schön steil.« Ich bin viel mutiger und stärker als du, bildete er sich ein.
   Für seine 11 Jahre lang und dünn, überragte er seine Klassenkameraden um einen halben Kopf. Er hatte ein ernsthaftes Gesicht, braunes Haar und meerblaue Augen. Die siebenjährige Mareen war ein Winzling gegen ihn. Die langen blonden Haare lugten unter ihrer Lieblingsmütze hervor. Die hatte ihre Mutter für sie gestrickt, verziert mit Wintermotiven. Die an der Spitze befestigte große weiße Bommel wippte bei jeder Bewegung hin und her.
   »Na klar traue ich mich!«, antwortete sie gespielt schnippisch. »Ich bin doch kein Schneeangsthase.« Sie funkelte ihn an. Ihr Grinsen gab den Blick auf die Zahnlücke im Oberkiefer frei.
   Tommy staunte nicht schlecht. Das hatte er nicht von seiner Schwester erwartet. Sicher, beide hatten das Skifahren früh gelernt. Manche sagten, noch vor dem Laufen. Aber dieser Hang war selbst für ihn eine Herausforderung. Er strich seine Haare nach hinten, zog den Helm auf und den Gurt straff, ging für die Abfahrt in Stellung.
   »Ich zuerst«, hörte er Mareen fröhlich quaken. Sie hatte die Mütze in die Jacke gesteckt, den Skihelm übergezogen, so wie es ihre Mama aufgetragen hatte. Die Schnallen der Stiefel waren geschlossen, die Bindung saß fest. »Ich warte unten auf dich.« Mit den kleinen Skistöcken stieß sie sich ab. Langsam bewegten sich die Bretter über die Neigung. Dann ging es abwärts.
   Ihr Bruder stand mit offenem Mund am Gschlössl, einem der Berge der Postalm, sah ihr hinterher. Er schwitzte in seinem Skianzug. Die Sonne war zu warm, um herumzustehen. Ich muss sie noch vor dem großen Parkplatz überholen, nahm er sich vor.
   Mareen hatte einen Riesenspaß. Sie lachte und jauchzte. Beim Skifahren glitt sie dahin, fühlte sich, als könne sie fliegen. Und das vom ersten Mal an, als sie mit dreieinhalb Jahren die Skischule auf dem Hornspitz im Dachsteinmassiv absolviert hatte. Hatten die anderen Kinder von ›Pasta‹ nach ›Pizza‹ gewechselt, um zu bremsen, war sie in die Hocke gegangen. Es konnte ihr nie schnell genug gehen.
   Bei Thomas war es anders. Für ihn war Schifahren von Beginn an Sport. Ständig versuchte er, seine Technik zu verbessern, die optimale Fahrweise zu finden. Halte ich die Stöcke richtig? Was machen meine Knie? Nie die Hüfte zu viel schwingen. Die Kontrolle seiner Haltung führte er vor jeder Fahrt durch. Hände durch die Schlaufen, fest zupacken. Es fühlte sich richtig an. Mit leicht angewinkelten Knien stieß er sich ab.

   Bertram Bruckner, ein bleicher Mann mit blassblauen Augen, hatte sich in Schale geworfen. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und Hemd vom A&C, dazu eine orangefarbene Krawatte und Halbschuhe, die ihre besten Zeiten hinter sich hatten. Seine kurz geschnittenen schwarzen Haare hatte er in Form gegelt. Obwohl seit Jahren arbeitslos, wollte er unbedingt Abgeordneter im Salzburger Landtag werden. Deshalb nutzte er jede Möglichkeit, um seine Parolen in die Köpfe potentieller Wähler zu pflanzen. So auch heute im Restaurant Lienbachhof.
   »Ich weiß genau, was ihr braucht«, säuselte er. »Mehr Geld für die Postalm. Ihr wollt endlich das leidige Thema, die Suche nach Investoren, beenden. Ich kann euch helfen.«
   Seine Zuhörer, vier grauhaarige Pensionäre, nickten ihm freundlich zu. Solange Bruckner sie zu gratis Getränken einlud, war ein zustimmendes Brummen, oder ein ›Ja, genau‹ kein Problem.
   Josef, der älteste von ihnen, hatte seit einer halben Stunde sein Hörgerät ausgeschaltet. Er fand, Freibier war in Ordnung, aber den Schmarrn musste er sich nicht anhören. Bewegten die anderen drei den Kopf, tat er es ihnen gleich. Waren sie ruhig, täuschte er Interesse vor. Das funktionierte fast immer, selbst bei seiner Frau.
   »Versteht ihr, was ich meine? Wenn ich erst einmal im Landtag bin, kann ich der Postalm die Aufmerksamkeit verschaffen, die sie verdient hat.« Bruckner rief die Kellnerin zu sich. »Bringst du uns noch eine Runde? Drei Stiegl, ein Weißbier, für mich noch einen Weißwein. Danke.«
   Josef sagte laut: »Ja genau, so wird’s gemacht.« Er hatte kein Wort verstanden, aber die neue Bestellung verlangte Zuspruch. Seine Freunde nickten.
   »Wie lange gibt es deinen Klub eigentlich schon?«, wollte Rupert, der fitteste der Rentner, wissen.
   »Da haben Sie aber eine gute Frage gestellt«, lobte ihn Bruckner. »Die Partei gibt es seit dem Sommer. Die Idee dahinter, eine Alternative für Österreich zu sein, ist jedoch viel älter. Schon lange wollen die Gründer unseres Klubs den alten Parteien etwas entgegensetzen, das sie zum Handeln zwingt. Ohne eine Opposition, die auf den Tisch schlägt, geht das Land den Bach runter. Das ist doch auch Ihre Meinung?«
   Wie er es bei den Parteiversammlungen im Klubhaus in Fuschl am See gelernt hatte, war der Zeitpunkt für die Interaktion gekommen. Seine Zuhörer mussten ihm zustimmen. Nur wer das Wort ›ja‹ sagt, kann überzeugt werden, hörte er seinen Trainer im Geiste. »Also seid ihr auch dafür, dass das Land Salzburg mehr Geld in die Infrastruktur der Postalm pumpt?«
   »Na klar«, erwiderten Rupert und seine Tischnachbarn. Josef nickte.
   »Dann verrate ich Ihnen jetzt ein Geheimnis.« Bruckner beugte sich über den Tisch. Konspirativ, als ob kein anderer mithören dürfte, steckten sie die Köpfe zusammen. »Die Regierung in Salzburg will keinen Cent mehr reinstecken in die Postalm. Ich bin selbst dabei gewesen, als sie das beschlossen haben.«
   »Ja, genau«, warf Josef ein, sich sicher, die richtigen Worte gefunden zu haben.
   »Du warst dabei?«, wunderte sich Rupert. »Du bist doch noch gar nicht gewählt.«
   Überrumpelt stotterte Bruckner: »Ich … ich war … genau. Ich war unter den Zuschauern. Ich habe es live erlebt, mit eigenen Augen gesehen. Die vergessen uns hier oben. Die wollen nur ihre eigenen Taschen füllen.« Er wusste, seine Antwort war gefährlich. Nicht jede Sitzung, besonders die des Finanzausschusses, wurde öffentlich abgehalten. Aber das konnte der Alte nicht wissen. Bei Josef hat meine Lüge gewirkt, dachte er. Der ist offensichtlich Feuer und Flamme für meine Ideen. Trotzdem muss ich das Gespräch in eine andere Richtung lenken. Sonst werden die alten Knacker vielleicht misstrauisch.
   Er versuchte es mit einem anderen Thema: »Das Geld, die Steuern, die wir alle bezahlen, gehen hauptsächlich in die EU oder zu den Asylanten. Wir wären viel besser dran ohne die Bürokraten in Brüssel.« Das berührt alle, triumphierte er innerlich. Mit Steuern, EU und Asylanten kann ich Wahlkampf machen. Die Stimmung war durch die Flüchtlingswelle derart angeheizt, dass jeder darüber sprach.
   Die Kellnerin servierte die Getränke, eine willkommene Pause für Bruckner. So konnten seine Parolen bei den Zuhörern sacken.
   »Wo verkauft mein Sohn seinen Schnaps, wenn wir nicht mehr in der EU sind?«
   Der Einwurf schreckte den Möchtegernpolitiker auf. Das ist das zweite Mal in den letzten Wochen, dass sich jemand für die EU ausspricht. Noch dazu einer, der Beziehungen zum Handel hat. Ich muss vorsichtig sein. Wer gefragt hatte, war ihm entgangen. Gerade hatte er einem Mann zugewinkt, den er unter allen Umständen auf seine Seite holen wollte. Ein Hotelbetreiber, dessen Einfluss lediglich von seiner Arroganz übertroffen wurde. Wahlkampf verlangt, mit jedem zu sprechen, ob sympathisch oder nicht, ermutigte sich Bruckner gedanklich. Es ist Zeit, sich von den Tattergreisen zu verabschieden, ohne dass es wie eine Flucht aussieht.
   »Ihr entschuldigt mich bitte. Ich muss dorthin, es ist wichtig«, sagte er, klopfte zweimal auf die Tischplatte, bevor er sich mit seinem Weinglas an den anderen Tisch setzte.
   Josef schaltete sein Hörgerät ein. »Und wie war’s?«, wollte er wissen.
   »Na ja, eigentlich wie immer. Viele Versprechen, keine Antworten. Ich wünschte, ich könnte meine Hörmuscheln so abschotten, wie du.« Rupert war ein bisschen neidisch.
   »Polit-Amateure mit dem Drang zu Macht haben uns noch nie gutgetan. Ich wähle den nicht«, meinte Paul, der bisher geschwiegen hatte.
   »Denkst du ich?«, rief Rupert aus.
   »Das ist ein Idiot. Der ist doch nur bei den Spinnern von der VÖ, weil er woanders keine Parteimitgliedschaft bekommt. Hat nicht mal ’ne Bila-Karte.«
   Sie lachten.
   »Selbst der Straßendienst wollte ihn nicht«, ergänzte Josef.
   Das Gelächter wurde lauter. Jeder hatte etwas beizusteuern, keiner Gutes. Bertram Bruckner war eindeutig nicht ihr Favorit.
   »Ob er von dem dicken Fisch Spendengelder haben will?«, meldete sich Hans Becker, der einzige Deutsche in der Runde, zu Wort.
   »Wahrscheinlich. Ein neuer Anzug würde ihm gut stehen.«
  Sie hatten ihren Spaß, waren sich einig. Ein Abend bei gratis Bier so kurz vor Weihnachten, was konnte es Besseres geben.