Almtod – Ein Postalmkrimi (Teil 1) Kapitel 1

Das war einfach, dachte der Mann mit dem Jagdgewehr, nicht anders als bei dem Bock, den ich heute Mittag abgeknallt habe. Er grinste. Soeben hatte er zum ersten Mal auf einen Menschen gezielt, einen großen, schweren Mann. Wie ein Zwanzigender, war ihm in den Sinn gekommen. Der Fatzke hatte sich aufgespielt, wollte ihn bei der Gemeindeverwaltung melden.

     »Ich habe Sie gesehen, Sie schießen in der Schonzeit auf Hirsche! Das muss und werde ich melden!« Er hob einen Zeigefinger drohend in die Luft, so wie es sein alter Klassenlehrer früher getan hatte.
     »Es war ein Reh, du Dummkopf!«, sagte der Wilderer und drückte ihm das Gewehr auf die Stirn. Er zwang den Weißhaarigen, sich breitbeinig längs auf die Bank vor der Almhütte zu setzen. Der Mann rutschte, so weit er konnte, nach hinten. »Wohl doch Schiss, was?«, fragte der Wilddieb.
     »Ich habe keine Angst vor Ihnen«, entgegnete der Mann.
     »Ich bin in meinem Leben schon oft bedroht worden, überall auf der Welt. Von Kerlen, die mit blutverschmierten Macheten morden oder anderen, die dafür nur eine Plastiktüte oder Wäscheleine 
brauchen. Dagegen sind Sie mit Ihrer Kinderflinte bloß ein kleiner Wichtigtuer.«
     »Sie sind ein dummer Mensch«, sagte der Wilderer lächelnd, »Sie können nicht einmal eine Büchse von einer Flinte unterscheiden.«
     Der Schuss war überraschend leise gewesen. Dumpf, eher wie der Knall einer aufgeblasenen Papiertüte, die von klatschenden Kinderhänden zerdrückt wird.
     Er trat einen Schritt zurück, begutachtete sein Werk. Eine kleine rote Perle bildete sich am Rand der Eintrittswunde. Der Schütze neigte den Kopf zur Seite und wartete, bis der Tropfen größer wurde und sich vom Einschussloch trennte.
     »Ich denke … links«, tippte er. Sein Blick folgte dem Rinnsal von der Stirn zwischen den Brauen hindurch und entlang der Nase, bis es sich am linken Nasenloch erneut zu einem Tropfen sammelte. »Gewonnen! Ein guter Tag«, freute er sich.
     Seine Weihrauch HW60J hing wieder über der linken Schulter, als er hinter der Hütte Schritte hörte.
     »Herr Vogel, haben Sie das gehört? Was war das?«, ertönte eine weibliche Stimme, die sich rasch näherte. Sowie die Frau um die Ecke bog und ihn bemerkte, erstarrte sie in ihrer Bewegung.   Sie war etwa fünfundzwanzig, hatte ein Allerweltsgesicht auf einem zu dünnen, fast mageren Rumpf in grauer Geschäftskleidung. Ihre kurzen braunen Haare zierte eine helle Strähne auf der linken Seite.
     Ohne den Blick von ihr abzuwenden, nahm der schwarz gekleidete Mann erneut seine Waffe in die Hand, zog den Verschluss nach hinten, lud eine Patrone in den Lauf. Es war Routine für ihn. Das Wild nicht aus den Augen lassen, fixieren, zielen, abdrücken. Augenblicklich erfasste die Frau die Situation. Sie drehte sich blitzschnell um und rannte den Weg zurück hinter die Hütte.
     Gelassen folgte ihr der Schütze, fand sie, hockend neben einem schwarzen Mercedes Geländewagen. Als sie ihn erblickte, zuckte sie zusammen. Fieberhaft überlegend, wie sie entkommen könnte, stand sie langsam mit erhobenen Händen auf.
     Er registrierte, wie sie fast unmerklich ihr Gewicht auf das linke Bein verlagerte. Gleich wird sie losrennen, versuchen, den Wald hinter ihr zu erreichen. Fichten bieten einen guten Schutz, dachte er. Er war ein geübter Beobachter. Das Muskelspiel des Wildes verrät, wann es flüchten will.
     Die Frau sprang los, bereit, um ihr Leben zu laufen. Er ging nicht einmal in Anschlag, zog lustlos den Abzugshahn durch, schoss einfach so aus der Hüfte. Irgendwie war es keine große Sache mehr – nach dem ersten Mord.
     Der Schuss traf die Frau in den Rücken. Blattschuss, sie fiel. Mit dem Gesicht nach unten lag sie auf dem Schotter der Parkbucht.
     Der Schütze überlegte, ob er sich eine Trophäe mitnehmen sollte. Eine Haarsträhne, ein Finger oder ein Ohr, irgendwas. Wild ist Wild. Sein Jagdmesser in der Hand kniete er sich neben sie, hielt inne. Plötzlich griff er ihr hart in den Schritt, krallte sich fest, fühlte die Wärme durch ihre Hose hindurch.
     »Na, gefällt dir das, du Nutte? Ja? Willst du nochmal richtig gefickt werden? Von einem echten Mann, nicht von so einem alten Knacker wie dem da?«, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des toten Mannes.
     Die rechte Hand zwischen ihren Beinen, öffnete er mit der linken sein Koppel. Der Anblick der wehrlosen Frau erregte ihn mehr als alles, was er bisher erlebt hatte. Mit seinem Gürtel fesselte er ihre leblosen Hände auf dem Rücken. Er riss ihr brutal den Kopf hoch, drehte ihn zur Seite. Das Genick brach mit einem lauten Knacken.
     »Macht es dich auch so geil wie mich? Hast du deshalb deine Augen geöffnet? Du willst zusehen, nicht wahr?«, keuchte der Mörder. »Entspann dich, mein Schatz, es wird dir gefallen.« Er küsste sie grob auf ihre dunkelrot geschminkten Lippen.
     Mühsam, zitternd vor Erregung, befreite er sein steifes Glied aus der Hose. Mit zwei Fingern öffnete er gewaltsam ihren Mund, kroch auf den Knien näher heran. Er streichelte ihre Wange, legte ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Laut stöhnend drang er ein, ergoss sich ohne eine weitere Bewegung.
 
     Minuten später holte ihn ein lautes Motorengeräusch in die Realität zurück. Er sah zur Straße hinauf. Es war der Linienbus Richtung Strobl.
     Scheiße, schoss es ihm durch den Kopf, die können mich ja sehen! Er löste seinen Gürtel von ihren Händen, brachte seine Kleidung hastig in Ordnung. Ein letztes Mal betrachtete er die Frau. Gefesselt hast du mir eindeutig besser gefallen.
     Er überlegte. Der Mercedes musste schnell verschwinden. Das Gelände um die Hütte herum war gut einsehbar, sowohl von der Mautstraße als auch von dem unten verlaufenden Forstweg aus. Das SUV würde weithin sichtbar sein. Die beiden Toten waren ihm gleichgültig. Niemand würde sich hierher verirren, die Nachsaison war die ruhigste Zeit. Und wenn das Wetteramt recht behalten würde, wäre schon morgen alles eingeschneit. Den Alten und seine beträchtlich jüngere Freundin würde man für eine ganze Weile nicht finden.
     Der Schütze durchsuchte erst die Frau, dann den Mann nach den Autoschlüsseln. Sobald er sie gefunden hatte, lief er zum Wagen der beiden, verstaute seine Waffe hinter dem Fahrersitz und stieg ein. Der kräftige Achtzylindermotor erwachte beim ersten Druck auf den Startknopf.
     Vorsichtig fuhr er den Feldweg hinauf, rechts am Jagdhaus vorbei bis zur Ausfahrt auf die Postalmstraße. Nachdem er ungesehen abgebogen war, durchflutete ihn ein euphorisches Gefühl.
Konzentriere dich, ermahnte er sich. Du musst dich für ein oder zwei Stunden irgendwo verstecken.
     Um die Postalm unbemerkt verlassen zu können, war er gezwungen zu warten. Nach achtzehn Uhr war die Mautkasse in Strobl unbesetzt. Im Schutz der Dunkelheit würde er die offene Schranke passieren und zum Mondsee fahren, in dem er den Wagen im Wasser versenken konnte. Und niemand würde ihn bemerken.
     Er entschied sich für den im Wald verborgenen Parkplatz der Strobler Hütte oberhalb der Postalm. Bis Anfang Mai war dieses Restaurant geschlossen, mit Wanderern brauchte er nicht zu rechnen. Er parkte dicht am Waldrand, betätigte die automatische Verstellung der Rückenlehne, um bequemer zu liegen, und schlief sofort ein.

     Es war dunkel, als der Mörder erwachte. Die analoge Uhr in dem mit schwarzen Leder bezogenen Armaturenbrett zeigte einundzwanzig Uhr zehn. Er hatte beinahe fünf Stunden geschlafen.
Panik ergriff ihn. Hat mich jemand beobachtet oder sogar erkannt? Was jetzt? Hastig startete er den Motor, zog am Wahlhebel, trat das Gaspedal durch bis zum Bodenblech.
     Mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll gab der 6,3 Liter Motor seinen 517 Pferden die Sporen und wäre beinahe rückwärts gegen eine stämmige Fichte gekracht. Als das SUV endlich stoppte, stand der Schütze mit beiden Füßen auf dem Bremspedal. Arme und Beine hatten sich verkrampft, sie schmerzten. Adrenalin raste durch seinen Körper, er hörte das Blut in den Ohren rauschen.
     »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
     Er legte die Stirn auf das Lenkrad, atmete tief durch. Sein Herz schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis es sich beruhigt hatte. Behutsam berührte er den Schalthebel, legte ihn auf D um. Vorsichtig Gas geben und nur noch weg hier, dachte er.
     Nachdem der Wilderer die Serpentinen-Straße nach Strobl und das leere Kassenhäuschen hinter sich gelassen hatte, fuhr er mit mäßiger Geschwindigkeit über Sankt Gilgen in Richtung Mondsee. Zwanzig Minuten später erreichte er Scharfling. Er folgte der Bundesstraße 754 nach Plomberg, bog wenige hundert Meter hinter dem Ortsausgang in einen Waldweg zum See ein.
     Akribisch wischte er mit einem Taschentuch alles, was er angefasst hatte, ab. Er nahm sein Jagdgewehr, legte einen Gang ein. Während das Auto langsam vorrollte, sprang er heraus. Drei Minuten später war der Mercedes für immer verschwunden.
     Nun musste er nur noch seine Waffe loswerden. Das Risiko, mit geschultertem Gewehr gesehen zu werden, wollte er nicht eingehen. Er sah sich um und fand ein sicheres Versteck unter einem Gebüsch in Ufernähe. Mit einem letzten Blick auf den See machte er sich auf den Heimweg.
     Spät in der Nacht kam er zu Hause an. Den größten Teil des Weges war er zu Fuß gegangen, hatte sich nur ein Mal per Anhalter mitnehmen lassen. Ohne sich auszuziehen, legte er sich auf sein Bett. Er hatte es geschafft. Lächelnd fiel der Mörder in einen tiefen Schlaf.

Seit Mitternacht tobte ein Schneesturm auf der Postalm.