Auf der Fensterbank im WC meines Elternhauses lagen dicke Bildbände über Bayern und den Vatikan. Die Kochbücher thronten auf dem Winkelteil der Eckbank in der Küche. Und wenn einmal der Fuß eines Bettes oder einer Kommode abgebrochen war, waren sie universelle Helferlein.
Ob Freund oder Verwandter, jeder musste glauben, wir seien eine überaus belesene Familie. Das war leider nicht so. Die Bücher gehörten meinem Vater. Die »Maarten ´t Hart« Reihe, die gebundenen Romane von René Apple und die Bände des Brockhaus, den er ausschließlich aufschlug, um Kreuzworträtsel zu lösen.
Nie gab er mir und meinen drei Schwestern das Gefühl, es könnten auch unsere Bücher sein. Es war ihm nicht recht, wenn die Ordnung im Bücherregal durch ein fehlendes Werk gestört war. Und immer sah er es sofort.
»Wer liest den Alders?«, schallte es durch die Wohnung. Oder »Wer hat das Groene Boekje?« (Das grüne Buch, sozusagen der Niederländische Duden.) Er schrieb alles in ein kleines rotes Notizheft, das stets griffbereit auf der oberen rechten Ecke seines Schreibtisches lag. Um nicht zu vergessen, wer welchen seiner Bücherschätze entwendet hatte.
Bis ich mit 24 mein eigenes Leben begann, hatte ich neben der Pflichtlektüre meiner Schulzeit nichts gelesen. Ich kannte »Das Attentat« von Harry Mulisch »Der Brief für den König« von Tonke Dragt, weil ich sie lesen musste. Die Romane von Robert Louis Stevenson oder Cees Nooteboom hatte ich nie in den Händen gehalten.
Anfang Januar 1983, es lag noch ein Hauch von Weihnachtsgebäck und Tannennadeln in der Luft, bat mich meine Freundin mit den Worten: »Schatz, setz dich, ich muss dir was sagen« in unsere Küche. Hunderttausend Dinge gingen mir durch den Kopf: Trennung, der Tod eines Familienmitgliedes, Geldsorgen, mir sackten die Beine weg, ich saß.
»Was?«, brachte ich heraus. Noch heute schwärmt sie von meinem Gesichtsausdruck. »Du wirst Vater«, sagte sie.
Ich fing an zu weinen, umarmte sie, verwischte ihr Make-up mit meinen Tränen. Begann zu lachen, um gleich wieder laut zu schluchzen.
Wahrscheinlich denken andere werdende Väter an das Einrichten des Kinderzimmers oder »Mist, ich muss mein Cabrio verkaufen!« Mir kam in den Kopf: Was kann ich bessermachen kann als meine Eltern. Ein Vater-Sohn-Konflikt sollte meine Familie nicht belasten, auch wenn er seit der Antike nicht aus der Mode gekommen ist. In Gedanken machte ich mir eine lange, lange Liste. Ganz oben stand: »Bücher für alle«.
Ich würde meinem Sohn – klar es würde ein Junge werden – vorlesen, abends vor dem Einschlafen, so wie ich es mir immer gewünscht hatte. Wir würden zusammen »Winnetou« lesen, mit verteilten Stimmen oder … Oder was? Ich hatte keine blasse Ahnung, was man als Kind und Jugendlicher so alles liest.
Zwei Tage später, ich wohne zu jener Zeit mit meiner deutschen Frau in Oberhausen, ging ich in die vor Kurzem eröffnete Buchhandlung »Wiebus«.
Für mich tat sich eine vollkommen neue Welt auf. Voller Bücher, Tausende, für Kinder, Erwachsene und für alle dazwischen, sogar in Brailleschrift. Ich kaufte zunächst zehn verschiedene Geschichten und Romane für Kinder und Jugendliche. Auf Deutsch.
Zuhause angekommen, las ich mein erstes Kinderbuch »Frierefritz«. Ich habe es verschlungen. Danach war Tonke Dragt mit »Das Geheimnis des siebten Weges« an der Reihe. Es folgten »Die Schatzinsel«, »Der Ölprinz«, »Tausend und eine Nacht« und einige mehr. Ich versank in den Welten voller Intrigen und Habgier, wurde zu Jim Hawkins und empfand den Schmerz von Atréju in »Die unendliche Geschichte«. Ich sog alles in mir auf. Nach so vielen Jahren zu erkennen, was man vermisst hat, ohne es zu wissen, ist schmerzlich.
Acht Jahre und zwei weitere Kinder später saß ich im Kinderzimmer. Ich las aus einem Wunschbuch vor wie jeden Abend, an dem ich keinen Dienst hatte. Robinson Crusoe hatte seine Insel verlassen, als meine Tochter Leni fragte, ob ich nicht selbst eine Geschichte erzählen könne. Ich sollte nicht so einen dicken Schmöker vorlesen, weil das Monate dauern würde und sie den Anschluss verpasste, wenn sie mal zu schnell einschlief.
Das war die Geburtsstunde des Geschichtenerzählers Nepomuk Tabakel, wie ich mich nannte. Meine Kinder waren meine erste Fangemeinde. Seit jenem Tag wechselten sich Lesen und Erzählen ab. Die Abende füllten sich mit imaginären Welten anderer Planeten, Piratengeschichten mit Schätzen so groß wie ein Bus, Geschichten von Drachen und Dinosauriern.
Mit den Jahren entwickelte sich Nepomuk zum Erzähler von den Abenteuern einer Kinderbande. Und lustigen Begebenheiten der doofen Mädchen im Zeltlager. Die nächtliche Unterhaltung wurde anspruchsvoller und ausgefeilter. Als sich die Kinder zu alt fühlten, weil Freunde oder Freundinnen ihre Köpfe füllten, wurden die Stunden der Illusionen und Fantastereien seltener. Schließlich zelebrierten wir sie nur noch an Feiertagen.
Meine wunderbare Frau brachte mich vor ungefähr zehn Jahren darauf, die Märchen des Nepomuk Tabakel aufzuschreiben. »Für die Kinder«, sagte sie, »und für mich. Ich möchte sie unseren Enkeln vorlesen können.«
Das war der buchstäbliche Tritt in der Allerwertesten, den ich brauchte. Die Idee, das Verlangen, Geschichten niederzuschreiben und zu bewahren, gärt seither in mir. Ich wollte schreiben und endlich tue ich es. Ich bin so glücklich wie an dem sonnigen Augusttag, an dem ich zum ersten Mal Vater wurde. Dieses Gefühl werde ich festhalten, wie ich es mit meinen Kindern gemacht habe. Ich werde es hegen und pflegen bis etwas ganz Besonderes herangewachsen ist. Ein eigenes Buch, ein Roman, mein viertes Kind.
Vielleicht hätte ich früher darüber nachdenken sollen. Und vielleicht hätte ich so auch meinen Vater erreicht.
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